Zum Inhalt des Buches ECHSENKÖNIG


Der Roman "Echsenkönig" ist in erster Linie ein Roman für Kinder und Jugendliche - aber nicht nur! Auch Erwachsene profitieren von diesem Roman, in dem es um die Freundschaft zwischen dem Mädchen Janne und dem von Autismus betroffenen Jungen mit dem Namen Anders geht. Beide Kinder könnte man zu den Außenseitern der Klasse zählen, denn Janne denkt, sie mag keiner, weil sie eine Brille mit dicken Gläsern tragen muss, ohne die sie nicht gucken kann. Sie fühlt sich ausgeschlossen aus der Gruppe, isoliert sich aber auch selbst, indem sie dauernd liest. Nun kündigt die Klassenlehrerin einen neuen Schüler an und Jannes größter Wunsch, am Anfang der Handung ist, dass dieser Junge ihr Freund wird. Sie überlegt sich genau, was sie tun kann, damit das gelingt. Dass dies aber nicht so einfach ist, zeigt sich schon am ersten Schultag...
Das besondere und faszinierende an der Form des Romanes ist, dass die Autorin die Handlung aus zwei verschiedenen Perspektiven erzählt, sowohl aus Jannes Sicht, aber auch aus der von Anders (schräg gedruckte Textpassagen). Zum Ende des Buches verdichtet sich alles, die Wechsel werden enger, die Textpassagen aus einer Sicht kürzer. Der Gedanke der Autorin dabei war, zu zeigen, dass beide Sichtweisen gleichwertig nebeneinander stehen können und Gültigkeit haben. Es geht um die unterschiedliche Wahrnehmung der Geschehnisse  und den damit verbundenen differierenden Gefühlen und Handlungsweisen der Kinder. Es geht aber auch um Verständnis, um Akzeptanz und Respekt vor dem Anderssein.


Leseprobe / Kaptiel 2, 3 und 4:

Der Neue

„Achtung! Sie kommt!“, schreit Paul.
Aufpassen kann der Blödmann wenigstens, denkt Janne, als sie den Warnruf hört. Die letzte große Pause ist gerade vorbei, alle sind schon im Klassenraum. Nur noch zwei Stunden, dann ist Schluss. Wie so oft herrscht mal wieder ein totales Chaos. Alle rufen und schreien durcheinander. Auf dem Boden verstreut liegen Schultaschen. Leere Brotdosen, Getränkepäckchen und Schulhefte bedeckten die Tische. Leo sitzt auf der Fensterbank und schießt mit einem Gummiband kleine Papierkügelchen gegen die Deckenlampe. Die Papierkugeln hat er vorher in den Mund genommen und mit Spucke nass gemacht. Das macht er immer so. Um die Lampe kleben schon mindestens zwölf Stück. Janne findet das ekelig. Leo macht ständig solch ekelige Sachen. Er findet das lustig. Außerdem trägt er immer eine schwarze Basecap mit riesigem Schirm. Die Lehrer müssen ihn in jeder Stunde wieder auffordern, sie abzunehmen und jedes Mal knurrt er irgendwelche unverständlichen Wörter in sich hinein. Kaum klingelt es dann zur Pause, ist die Kappe schon wieder auf dem Kopf. Dabei gibt es in seinem Kopf gar nichts zu beschützen und bemützen, denkt Janne. Da ist nämlich nur Luft drinnen.
Leo gehört, so wie Paul und noch ein paar andere Jungen aus der Nebenklasse, zur Bande. Diese Bande trifft sich nachmittags, rast mit Fahrrädern durch die Gegend, lauert meistens den Mädchen oder viel kleineren Jungen auf, um sie zu ärgern, zu erschrecken oder im Vorbeifahren mit einem Stock durch ihre Haare zu wischen. Janne kann keinen aus der Bande leiden. In der Ecke des Klassenraumes stehen Sina, Merte und Linda um den Papierkorb herum. Sina wedelt gerade mit einem Brief, den sie den anderen beiden eben vorgelesen hat. Jetzt zerreißt sie ihn in kleine Stücke. Wie Schneeflocken tanzen die Schnipsel zu Boden, neben und in den Mülleimer. Sina guckt aber gar nicht zu den Schnipseln, sie glotzt ununterbrochen zu Paul. Janne weiß, dass Sina in den gerade total verknallt ist. Es scheint ihr nichts auszumachen, dass er nur Luft im Kopf hat. Sina verknallt sich zurzeit in fast jeden Jungen.
Janne klappt das Buch zu, in dem sie in der Pause gelesen hat und Paul kommt zum Tisch gefegt. Es ist ziemlich öde, neben ihm sitzen zu müssen. Janne begreift bis heute nicht, wie Frau Seefeert ihr das hat antun können. Paul und sie reden fast nie miteinander, nur wenn es unbedingt sein muss, weil sein Mund mal wieder eine Gemeinheit produziert hat, die sie nicht auf sich sitzen lassen kann. Jetzt legt er sich fast auf den Tisch, schiebt seinen Oberkörper zu Janne hinüber und wischt mit seinem Arm ihre Federtasche fast vom Tisch.
„Rutsch rüber! Ich brauch Platz!“, sagt er und dann flüstert er, „Und im Übrigen schuldest du mir noch was!“  Oh, wie unbeschreiblich dumm er doch ist und wie sie ihn hasst! Sie schuldet ihm natürlich überhaupt nichts! Er sagt das bloß, um ihr Angst zu machen. Aber Janne hat keine Angst. Das ist vorbei. Früher hat Paul sie einschüchtern können, aber heute nicht mehr!  
„Denk dir mal etwas Neues aus“, zischt sie zu ihm hinüber, „du weißt ja nicht mal, wie man das Wort Schulden schreibt!“ Und tonlos, so dass er es nicht hören kann, fügte sie hinzu, „Du Plattgesicht!“ Ja, so sieht er wirklich aus. Seine Nase ist breit und seine grauen Augen stehen weit auseinander, so als ob er irgendwann einmal frontal gegen eine Wand gelaufen ist. Klar, so etwas zu denken ist gemein, das weiß Janne, aber es stimmte einfach. Janne steckt ihm schnell die Zunge heraus.
Und gerade als ihre Zunge wieder in den Mund zurück flutscht, öffnet sich die Tür und Frau Seefeert kommt herein. Da steht sie nun, mitten im Chaos, groß und spindeldürr, mit ihren knallroten Locken, dem spitzigen Kinn und ihrem grünen Flauschpullover. Janne denkt: Sie sieht heute wirklich wieder mal so aus, wie sie heißt, nämlich wie ein Seepferd. Ja, sie ist wirklich ein Seepferd, so aufrecht und mit dem etwas nach vorn gebogenem Hals und den spitz geformten Lippen.
„Ich heiße Frau Seefeert mit vier e …“ hat sie sich am ersten Schultag vorgestellt. Jetzt zittern die roten Locken auf der Stirn, so wie sie es immer tun, kurz bevor das Gemecker losgeht.
Zwischen den Tischen bricht Hektik aus! Zerknüllte Papiere fliegen in den Mülleimer, die Mappen kriegen Fußtritte und landen unter den Tischen. Nur um den Papierkorb leuchten viele weiße Papierschneeflocken und an der Deckenlampe glänzen kleine, ekelige Kugeln und sehen aus wie dicke, weiße Pickel. Und der Neue? Wo ist der?
Janne schaut zur Tür, die einen Spalt weit geöffnet ist. Plötzlich wird sie aufgeschoben, zaghaft und langsam und nicht so energisch wie bei Frau Seefeert. Ein Junge erscheint und bleibt an der Tür stehen. Er dreht sich um und schließt sie, drückt dabei die Klinke sorgfältig und sehr langsam. Dann geht er mit merkwürdig kleinen Trippelschritten zu Frau Seefeert hinüber und stellt sich neben sie. Den Kopf hält er gesenkt. Immer noch ist es unruhig in der Klasse, aber einige haben den Neuen schon entdeckt und schauen jetzt nach vorn und zischeln: „Seid doch mal ruhig!“
Janne Herz klopft plötzlich stark und laut. Fast so wie in dem Traum von gestern Abend. Hoffentlich hört Paul das nicht, denkt sie und drückt mit der flachen Hand gegen ihre Brust.
Der Junge, der vorne steht, ist groß und ziemlich dünn, hat lange Beine, die in ausgewaschenen Jeanshosen stecken. Sein Haar ist glatt und weißblond und fällt ihm vorne so tief ins Gesicht, dass man seine Augen gar nicht richtig sehen kann. Er guckt auch noch immer nach unten, vielleicht auf seine Schuhe, genau kann Janne das nicht erkennen. Die Schuhe sehen aber ganz normal aus, so wie weiße Turnschuhe eben aussehen. Eine ganze Weile steht der Junge so da, während Frau Seefeert darauf wartet, dass die Unruhe und das Gemurmel aus dem Fenster fliegen. Janne schaut zu dem Jungen.

„Guck doch mal her!“, flüstert sie leise.
„Halt die Klappe!“, platzt Paul laut heraus, weil er denkt, er sei gemeint. Frau Seefeert aber wirft einen strengen Blick in Pauls und Jannes Richtung.
Janne starrt nach vorn. Und da passierte es. Der Junge hebt plötzlich den Kopf, wirft seine Haare aus der Stirn und guckt. Nicht zu Paul guckt er, nein, zu Janne guckt er und zwar direkt in ihre Augen. Schnell wie ein Pfeil fliegt sein Blick aus dem Augenwinkel seiner hellen, blauen Augen genau zu ihr, obwohl sie so weit hinten sitzt und diese hässliche Dickglasbrille trägt. Janne wird ganz merkwürdig im Bauch und sie muss schnell auf die Tischplatte gucken. Ihr Herz wummert, als sie wieder nach vorne schaut. Aber der Neue guckt schon nicht mehr zu ihr, er guckt wieder nach unten auf seine Schuhe. Ganz still steht er da und rührt sich nicht. Ob es ihm peinlich ist, dass er sie angesehen hat? Ach, ist doch egal! Wichtig ist: er hat sie angesehen! Vielleicht geht ihr großer Wunsch ja in Erfüllung.
Frau Seefeert, die eben noch so ausgesehen hat, als würde sie gleich platzen, tut dies nicht. Nein, sie lächelte mit ihren blendend weißen Zähnen von oben auf den neuen Schüler herab.
„Anders“, sagt sie, „das sind deine neuen Mitschülerinnen und Mitschüler. Manchmal geht es hier etwas drunter und drüber, aber im Prinzip sind alle sehr nett. Du wirst bestimmt schnell Freunde finden. Ich denke, es ist gut, wenn du dich neben Janne setzt. Paul, dich möchte ich bitten, drei Plätze weiter nach links zu rücken. Der Platz neben Sina ist ja schon lange frei.“
Hat Janne richtig gehört? Was hat das Seepferdchen da eben gesagt? Paul soll sich umsetzen und der Neue krieg den Platz neben ihr? Genau das hat sie sich doch gewünscht!
Heute ist mein Glückstag, denkt Janne und ihr Gesicht fühlt sich plötzlich ganz heiß an. Paul schlurft mit seinen Sachen zu Sinas Tisch hinüber. Nun ist der Platz neben Janne frei.
„Da, neben Janne ist dein Platz, Anders. Dort kannst du dich hinsetzten“, flötet Frau Seefeert Anders ins Ohr. Der aber bewegt sich nicht. Janne wischt schnell mit ihrem Arm über die Tischplatte. Sie weiß eigentlich nicht weshalb, wahrscheinlich, damit sie nicht nach vorne schauen muss.
„Nun geh’ schon, Anders!“ Frau Seefeerts Stimme klingt auf einmal energischer. „Janne ist ein ruhiges Mädchen und beißt dich nicht!“ Der Neue aber rührt sich immer noch nicht und starrt weiter auf seine Schuhe. Sein helles Haar verdeckt das ganze Gesicht.
Und, wie kann es anders sein, die Blödmänner von der Bande schicken auch schon die erste Gemeinheit los.
„Kann ich verstehen, dass du nicht neben der da sitzen willst. Ich bin froh, dass ich weg bin“, grinst Paul. Leo lacht laut und haut mit der Faust auf seinen Tisch. Natürlich lachen auch ein paar andere. Nur Janne nicht, der Neue sowieso nicht und auch Frau Seefeert nicht.
„Bitte, Paul, lass das!“ Die grünen Seepferdaugen blitzen wie Unterwasssermonsteraugen! So wild kann nur das Seepferd gucken! Janne wünscht sich ganz fest, dass es sich gleich in wirklich in ein Unterwassermonster verwandelt, seine Krakenarme ausfährt und Paul damit umschlingt und würgt, bis er röchelnd unter seinem Tisch liegt.
Da bewegt Anders sich auf einmal doch. Aber er kommt nicht zu Jannes Tisch. Er schaut zur Tür, dreht sich um, geht auf sie zu und drückte die Klinke herunter, mehrfach, immer wieder, bis er sie öffnet. Will er etwa gehen? Aber Anders schaut nur kurz hinaus in den Flur und schließt die Tür gleich darauf wieder. Dann geht er zurück zu Frau Seefeert, stellt sich wieder neben sie, als ob nichts geschehen sei, und guckt wieder auf seine Schuhe. Frau Seefeert schaut ihn fragend an. Merte und Sina halten sich inzwischen die Hände vor den Mund und Janne weiß, dass sie gleich losprusten werden. Janne aber starrt wieder zu Anders. Bitte, komm doch endlich, denkt sie. Aber in ihrem Kopf klingt gerade eine ganz andere Stimme, die sagt: Er findet dich sowieso doof, so doof wie alle anderen auch! Janne wird ganz flau im Magen. Hoffentlich merkt es keiner. Und damit das nicht passiert, wischt sie jetzt immer wilder mit dem Arm auf der blanken Tischplatte herum, immer hin und her und hin und her. Weshalb kommt der Neue nicht zu seinem Platz? Warum starrt er bloß auf seine blöden Schuhe und tut so, als ob er gar nicht gehört hat, was Frau Seefeert gesagt hat? In der Klasse ist es auf einmal still, eine richtig merkwürdige und unangenehme Stille ist das. Einige flüstern. Janne hört es.
„Was ist denn mit dem los?“, und „Mann, der hat ja die Hosen gestrichen voll!“
Aber ehe die Unruhe wieder zu groß wird, nimmt Frau Seefeert Anders plötzlich an der Hand, wie ein kleines Kind, und führt ihn zu Jannes Tisch. Und Anders lässt sich das gefallen! Janne stockt der Atem. Wie peinlich ist das denn! Und der neue Junge tut nichts dagegen! Alle in der Klasse halten den Atem an. Keiner lacht mehr, auch Paul, Leo und Sina nicht. Alle wissen, dass jeder, der in diesem Moment auch nur den leisesten Versuch machte, zu kichern, von Frau Seefeert mit Blicken erwürgt wird. Und nach ein paar Sekunden sitzt Anders tatsächlich neben Janne. Die Schulmappe rutscht von seinem Rücken und landet ganz ordentlich neben dem Tisch. Frau Seefeert geht nach vorn zur Tafel zurück und endlich beginnt der Unterricht.
Janne aber sieht zu Anders hinüber. Er soll merken, dass sie nicht so ist wie die anderen hier. Er soll merken, dass sie seine Angst, falls er welche hat, so am ersten Tag in der neuen Schule, verstehen kann. Aber Anders guckt nicht zu ihr. Er öffnet seine Schulmappe, holt etwas heraus. Es ist ein kleines Tier aus Plastik, ein Drache oder eine Art Echse. Er stellt das Tier vor sich auf den Tisch. Dann beugte sich mit dem Kopf zu ihm herab, schaut es ganz genau an, ehe er seine Hand schützend darüber legt, ein paarmal mit dem Zeigefinger darauf tippt und dann nach vorn zu Frau Seefeert guckt. Zu seiner neuen Tischnachbarin sagt er kein Wort. Kein „Hallo, du“, aus seinem Mund erreichte Jannes Ohr. Und auch nicht der kleinste Blick aus seinen hellen Augen trifft ihre Augen.

 

Die Echse

In den beiden letzten Stunden haben sie Mathematik, genauer gesagt Geometrie. Eigentlich macht Janne das Fach Spaß, weil man so viel zeichnen kann. Aber heute? Da vorne steht Frau Seefeert, mit dem Rücken zur Klasse. In der einen Hand hält sie ein riesiges Holzlineal, in der anderen ein großes Stück Kreide, mit dem sie versucht, einen geraden Strich an die Tafel zu zeichnen. Dabei verbiegt sie ihren Rücken so, dass sie ganz schief dasteht. Das Seepferd kippt gleich um, denkt Janne. Dazu redet die Lehrerin einen Haufen merkwürdiger Wörter und Zahlen. Was bedeuten die eigentlich? Janne kriegt gerade gar nichts mit. Und daran war der Neue neben ihr ist schuld, auch wenn er so tut, als sei sie gar nicht vorhanden. Janne hört doch, wie er ein- und ausatmet. Fast klingt es wie ein leises Schnaufen. Dazu dringt so ein Geruch in ihre Nase. So ein angenehmer. Sie schnuppert. Ist das der Neue? Sie schnuppert noch einmal. Ja, das kommt von ihm und es riecht wirklich sehr gut. Wenn Janne die Augen schließt, fühlt sie sich auf einmal wie auf einer frisch gemähten Wiese. Vielleicht findet er mich ja doch ganz nett, denkt sie und nimmt noch eine Nase voll von dem guten Geruch.
Janne schaut Anders von der Seite an. Sein Haar ist sehr blond, fast weiß und im Sonnenlicht glänzen sie so, als ob sie aus lauter Goldfäden bestünden. Lang sind sie, hängen sogar über die Ohren. Anders Gesicht war blass, sehr blass, findet Janne, auch fast weiß, aber seine Nase zeigt ziemlich frech nach oben. Er sieht aus wie aus Porzellan, denkt sie und zwar wie ein ganz bestimmter Engel aus Porzellan. Ja, genau so, wie der Engel im Schaufenster von Herrn Ringeleins Zeitungsladen. Im Schneidersitz hockt der neben den ganzen Feuerzeugen und Pfeifen, trägt ein weißes Porzellanhemd und hat Flügel und Haare aus Porzellan, die sogar golden angemalt sind. Seine Augen schauen sehr ernst. Aber wenn Janne einmal stehen bleibt, um ihn leise zu grüßen, dann guckt er an ihr vorbei. Janne findet den Engel sehr schön und als sie sich einmal ein Eis im Laden gekauft hat, hat sie Herrn Ringelein gefragt, was er kostet.
„Den kann man nicht kaufen!“, war Herr Ringeleins Antwort und als sie der Figur zu nahe kam, „Pfoten weg! Nicht anfassen!“ Als ob sie nicht vorsichtig mit kostbaren Dingen umgehen könnte! Jetzt denkt Janne, dass Anders diesem Engel ähnlich sieht, auch wenn er keine Flügel hat. Nur die Regenjacke stört. Anders hat immer noch seine Regenjacke an. Wieso hat er überhaupt eine an? Draußen scheint doch die Sonne.
„Du kannst deine Regenjacke ruhig ausziehen!“ flüstert sie so leise, dass das Seepferd es nicht hören kann. Und dann hält sie den Atem an, weil sie auf eine Antwort wartet. Hat Anders sie nicht gehört?
„Da drüben sind die Haken“, flüstert sie noch einmal und zeigt mit dem Finger Richtung Garderobe. Aber Anders rührt sich nicht und starrt nach vorne an die Tafel. Wahrscheinlich hört er zu. Es wäre allerdings wirklich sehr schade, wenn er ein Klugscheißer ist, der sich zu fein ist, mit anderen zu sprechen, denkt Janne. Wovon redet das Seepferd eigentlich gerade? Das interessiert Janne im Moment nicht. Sie probierte es noch einmal:
„Hallo, zieh‘ doch mal deine Jacke aus. Es ist warm hier!“ Wieder keine Reaktion. Anders guckt nach vorn und sagt nichts. Er muss doch furchtbar schwitzen in der Jacke. Auf seinen Wangen sieht Janne ja schon kleine Schweißperlen. Sie gibt nicht auf und stupst Anders mit dem Finger an:
„Mensch, ist dir nicht warm?“ Kaum hat ihr Finger Anders Arm berührt, da zieht er ihn blitzschnell zurück und schüttelt ihn, so als sei Jannes Fingerstups eine hässliche, fette Fliege gewesen. Mit der anderen Hand hält er die kleine Plastikechse fest. Sonst passiert nichts. Wirklich gar nichts! Anders guckt Janne nicht einmal an!
Plötzlich aber passierte doch etwas in Jannes Kopf. Dort platzt nämlich eine Seifenblase. Eine, in der ihre Freundschaftsgedanken bis eben waren. All die Wünsche von gestern Abend purzeln heraus. Platsch – der Neue wird nicht ihr Freund, und platsch – keine Einladung und keine Spiele im Park, kein Schwimmbad, kein Kino, keine Radtour, kein Auf-der-Wiese-liegen mit Wolkenraten! Und platsch… alles geplatzt und weg! Anders findet mich genauso doof wie alle anderen hier in der Klasse auch, denkt Janne jetzt. Ist doch klar, er redet ja nicht mal mit mir! Er tut so, als ob ich gar nicht neben ihm sitze! Als ob sie gar nicht da bin! Und plötzlich hat Janne das Gefühl, dass ihr Herz viel zu langsam schlägt. Wahrscheinlich wird es gleich stehen bleiben. So etwas kann passieren, wenn alle Hoffnung schwindet, denkt sie. So sagen es jedenfalls die Dichter in manchen Geschichten und Gedichten.
„Alle Hoffnung schwindet“, flüstert sie, legt den Kopf auf die Tischplatte und schließt die Augen. Sie will sich ab sofort auch nicht mehr bewegen, genauso wie Anders. Und sie wird hier sitzen bleiben, bis dieser saublöde Schultag vorüber ist. Nein, wahrscheinlich sogar noch länger, bis diese saublöde Woche herum ist.

„Hast du schon einmal einen Komodowaran gestreichelt?“ Janne schreckt hoch und wischt mit dem Ärmel über ihre Brillengläser. Ganz beschlagen sind die. Sie sieht alles unscharf. Hat Anders etwa etwas gesagt? Oder ist es wieder nur ein Traum gewesen? Einige Schüler sind aufgestanden und laufen durcheinander. Ist denn schon Pause? Janne wischt noch einmal über die Brillengläser, bis sie alles wieder ganz scharf sieht. Sie schaut zu Anders. Der sitzt immer noch neben ihr, hat jetzt aber einen Stift in der einen und ein Lineal in der anderen Hand. Auf dem Tisch liegt auch seine Federmappe. Hat Janne etwas verpasst?
„Hast du schon einmal einen Komodowaran gestreichelt?“ Wieder stellt Anders diese Frage, ohne Janne dabei anzusehen. Er wartet auch nicht auf eine Antwort von ihr, sondern redet weiter: „Komodowarane können bis zu drei Meter groß werden. Einige Exemplare sind allerdings wesentlich kleiner. Komodowarane gehören zur Klasse der Reptilien und zur Ordnung der Schuppenkriechtiere. Magst du Echsen?“ Paul dreht sich zu Janne und Anders und grinst, flüstert Sina etwas zu und hält sich die Hand vor den Mund, weil er lachen muss. Sina zeigt ihm einen Vogel, guckt aber auch zu Janne hinüber. Da wiederholt Anders alles laut und deutlich: „Komodowarane gehören zur Klasse der Reptilien und zur Ordnung der Schuppenkriechtiere. Magst du Echsen?“ Und dann sagt er: „Du kannst mich Anders nennen. Würdest du gestatten, dass ich mir den Stundenplan abzeichne?“
Janne braucht den Stundenplan, der auf dem Tisch klebt, nicht mehr. Sie kann ihn sowieso auswendig. Jetzt aber starrt sie Anders an und dann auch die kleine Echse auf dem Tisch. Er spricht mit mir, denkt sie. Ja, er spricht mit mir! Sie könnte vor Freude an die Decke hüpfen und dort neben den Papierkugeln kleben bleiben, so sehr freut sie sich. Sie lächelt Anders an.
„Äh…äh…ja…“, mehr kommt nicht aus ihrem Mund heraus, so aufgeregt ist sie. Da sagt Anders: „Komodowarane gehören zur Klasse der Reptilien. Magst du Echsen? Du kannst mich Anders nennen. Würdest du gestatten, dass ich mir den Stundenplan abzeichne?“  
Und Janne sagt noch einmal, „Äh…äh… ja…“, weil es in ihrem Kopf gerade total durcheinander geht. Sie reißt schnell den Stundenplan von der Tischplatte. Fffffft… macht es aber das Papier bleibt heil und Janne schiebt den Stundenplan zu Anders hinüber.
„Da, bitte!“ Sie versucht zu lächeln. Anders schüttelt seinen Kopf. Die goldenen Haare fliegen, als er Janne kurz ansieht.
„Ffffttt!“, sagt er und gleich darauf „Oh, oh!“  Er legt seine Hand vorsichtig auf den Stundenplan von Janne und betrachtet ihn genau. Ganz dicht geht er mit dem Gesicht an das Papier heran. Dann wedelt er mit seinen Händen darüber, so als ob das Papier zu heiß ist und er es nicht anfassen kann. Komisch sieht das aus, findet Janne.
„Ich dachte schon, du willst nicht mit mir sprechen“, sagt sie. Anders betrachtet immer noch den Plan.
„Ich danke für die Freundlichkeit“, sagt er dann leise, beugt sich über sein weißes Blatt Papier und beginnt abzuzeichnen.
 
Inzwischen hat die letzte Stunde angefangen und Frau Seefeert setzt vor der Tafel ihre gymnastischen Geometrieübungen fort. Janne beobachtet Anders beim Zeichnen und reißt die Augen vor Staunen auf. Wie der zeichnen kann! Anders nimmt genau die Farben, die Janne benutzt hat und er zieht die Linien genauso wie sie und schreibt dann auch noch so wie sie. Anders kann wirklich toll zeichnen! Als er kurz vor dem Ende der Stunde fertig ist, sehen die beiden Stundenpläne total gleich aus. Nur Jannes ist etwas zerknittert, durch das Abreißen vom Tisch.
„Toll! Das sieht ja aus wie eine Kopie!“ flüstert sie und das findet sie wirklich.
„Eine Kopie!“ stellt auch Anders leise fest und glättet den neuen Stundenplan sorgfältig mit seiner weißen Hand.
„Ich kann Sachen nicht so genau abzeichnen“, flüstert Janne und klebt ihren Plan wieder auf dem Tisch fest. Anders guckt ihr zu.
„Genaues Abzeichnen ist die einfachste Sache der Welt!“, fügt er hinzu.  
„Vielleicht für dich, aber ich kann das nicht!“
„Genaues Abzeichnen ist die einfachste Sache der Welt!“ wiederholte Anders mit Nachdruck. Janne blinzelt ihm zu und lächelt.
„Ok, ich werde es üben!“
„Packt bitte eure Sachen ein!“ ruft Frau Seefeert und der ganze Geometriekram kann endlich in den Mappen verschwinden. Papiere rascheln, Stühle werden geschoben und Mappendeckel klackern auf und zu. Anders steht plötzlich auf.
„Packt bitte eure Sachen ein!“ ruft er in die Klasse hinein und machte dabei die Stimme von Frau Seefeert nach! Alle lachen, sogar Frau Seefeert, und Janne muss auch grinsen, so echt klingt es.
„Wie du ihre Stimme nachmachen kannst!“ flüstert sie zu Anders hinüber. Der aber sagt nichts dazu. Er öffnet seine Schultasche, um Stifte, Lineal und die kleine Plastikechse darin verschwinden zu lassen. Janne schaut ihm über die Schulter und da sieht sie es in seiner Tasche. Es glitzert grün. Janne kann nicht genau erkennen, was es war. Aber mit Sicherheit ist es irgendein Tier, denn es hat einen Kopf, einen Krokodilskopf oder Echsenkopf. Der ist rund und hat schuppige, glänzende, grüne Haut. Aus der Dunkelheit der Schultasche starren Janna ein Paar kleine, rote Augen an. Schwupp, schon macht Anders den Deckel der Tasche zu. Da schnarrt die Schulglocke. Krrr!!
„Krrrr! Oh, oh…“, sagt Anders leise.
„Auf Wiedersehen bis morgen! Ich hoffe, ich sehe alle Eltern heute Abend auf dem Elternabend“, flötet das Seepferd, aber keiner hört zu, denn die Stühle knallen gerade mit den Sitzflächen auf die Tische. Anders springt auf, greift seine Schulmappe, schüttelt noch einmal den Kopf, dass seine goldenen Haare fliegen und läuft zur Tür.
„Du hast deinen Stundenplan vergessen!“ ruft Janne hinter ihm her und, „Tschüss, bis morgen!“ Anders aber, der schon an der Tür ist, dreht sich nicht noch einmal um. Er öffnet sie und ist im nächsten Moment auch schon verschwunden.

 

Ich. Anders
Jetzt rede ich. Ich. Anders.
Meine Mutter sagt: Der Name passt zu dir, Anders. Du bist anders als alle anderen.
Der Arzt Doktor Büchner meint zwar, ich sei autistisch, aber ich finde mich normal. Ich finde die anderen oft merkwürdig.
Ich weiß viel. Besonders viel weiß ich über Echsen. Ich lese viel über sie. Zurzeit interessiert mich besonders der Komodowaran. Ich lese alles über ihn. Ich sammle auch Echsen. Ich habe Echsen aus Plastik, aus Stoff, aus Gummi und sogar eine geschnitzte, aus Holz. In meinem Regal zuhause stehen meine Echsen. Meine Hauptechse Nummer 1 heißt Komodo. Komodo ist 35 Zentimeter groß und aus grünem Glanzstoff. Mein größter Wunsch ist eine lebendige Echse. Aber das ist eine Illusion, sagt meine Mutter, nicht erfüllbar. Komodo begleitet mich immer. Aber derzeit ist auch Echse Nummer 12 für mich sehr wichtig. Sie ist klein und aus Plastik. Sie ist auch mein Begleiter.
Heute ist ein besonderer Tag. Meine Mutter und ich gehen in die neue Schule. Ich muss in diese neue Schule gehen, weil wir umgezogen sind. Ich wäre gerne in meiner alten Schule geblieben, dort kenne ich mich gut aus. Jetzt ist alles neu. Das gefällt mir nicht. Der erste Raum, in den ich komme, hieß Sekretariat. Dort muss ich mich auf einen Stuhl setzen und warten. Es ist sehr ruhig hier, was mir gefällt, denn meine Ohren vertragen keinen Lärm. Trotzdem habe ich Angst, weil alles neu ist und ich nichts kenne.
Auf einmal kommt ein grüner Pullover herein in dem eine stockdünne Frau steckt. Auf ihrem Kopf sind kurze Feuerhaare, also rot. Ich muss der Person die Hand geben und sie kurz ansehen. Ich hasse das, aber ich tue es trotzdem, denn es gehört zur Höflichkeit, sagt meine Mutter. Ich gucke nicht in die Augen der Feuerkopffrau, sondern auf ihre Stirn. Das ist einfacher. Da sagt der Mund der Frau: „Ich bin Frau Seefeert mit vier ‚e‘, deine neue Lehrerin.“ Ihr Gesicht ist dreieckig, mit einer Spitze unten, da wo das Kinn ist. Meine Mutter verabschiedet sich und geht. Der grüne Pullover sagt: „Komm“, und wir gehen durch die Dunkelflure.
Die Flure sind lang und die Schuhe der Frau machen ‚Klock-klock‘ auf dem Boden. Das hört sich gut an. Aus den Klassenzimmern dringt Lärm zu mir, aber aus einem dringt ganz besonders unbeschreiblicher Lärm heraus und grelles Licht. Ausgerechnet in diesen Raum muss ich hinein. Ich bleibe vor der Tür stehen. Die Frau Seefeert mit vier ‚e‘ geht hinein und lehnt die Tür an. Ich sehe durch den Schlitz.
Angst ist in mir. Mindestens Angstlevel sieben von zehn. Durch den Türschlitz kommt Licht auf mich zu. Viel zu hell für mich. Meine Augen vertragen kein helles Licht. Auch die Geräusche sind zu laut für meine Ohren. Trotzdem gehe ich hinein. Die Türklinke macht ‚Klock-klock‘ beim Hinunterdrücken. Ein angenehmes Geräusch. Im Raum erkenne ich nichts, weil alle so schnell hin und her laufen. Es sind viele Kinder. Ich kann auch nicht verstehen, was sie sagen, denn sie sprechen alle gleichzeitig.  
Aber da ist eine Stimme, die sagte: Guck doch mal her! Und ich gucke. Die Stimme gehört zu einem Mädchen mit Augengläsern und sehr vielen Haaren auf dem Kopf. Das gefällt mir. Ich mag Personen mit Augengläsern. Die Gläser schützen den Blick hinein und heraus. Meine Mutter sagt, ich soll ‚Brille‘ sagen. Ich sage aber ‚Augengläser‘, denn es sind doch Gläser vor den Augen.
Ich stehe in dem Raum und habe Angst, wieder in einem hohen Level und bin so aufgeregt. Ich drücke zur Beruhigung mehrfach die Türklinke, weil ich das schöne ‚Klock‘ hören will. Klock-Geräusche beruhigen mich. Dann ist die Angst nicht so groß. Das Klock-Geräusch hört sich wiederholgut an.
Ich stehe neben der Frau. Sie sagt viele Wörter. Aber ich verstehe vor Aufregung den Sinn nicht. Ich soll etwas tun, denn alle gucken zu mir und warten auf etwas. Ich weiß aber nicht, was ich tun soll. Auf einmal verstehe ich doch. Ich soll mich neben die Augenglasträgerin setzen. Ich will losgehen, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich weiß nicht, wie ich meine Beine heben und bewegen soll. Das ist eine furchtbare Sache. Da greift die Feuerkopffrau meine Hand und zieht mich zum Stuhl und dann sitze ich.
Ich stelle Echse Nummer 12 auf den Tisch. Die Frau redete blablabla. Ich verstehe wieder nichts. Sie zeichnet Striche an die Tafel. In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander, die Sprache der Frau und die vielen bunten Bilder an den Wänden. Das Mädchen mit den Augengläsern starrt mich von der Seite an. Das ist unangenehm. Sie soll das lassen.
Nach ein paar Minuten erkenne ich doch, dass die Zeichen an die Tafel geometrische Formen sind. Ach, das kenne ich, das kenne ich gut. Ich zeichne auch gerne und gut.  
Die Augenglasträgerin redet plötzlich auch blablabla. Ich verstehe wieder nicht, nur ein Wort: Regenjacke. Warum sagt sie ‚Regenjacke‘? Und dann fasst sie mich an. Das ist gar nicht gut. Sie soll mich besser nicht anfassen. Ich mag das nicht.
Ich warte, bis sie nicht mehr starrt. Dann beginne ich ein kleines Gespräch. Ich spreche über Echsen und bitte sie, den Stundenplan abzeichnen zu dürfen. Plötzlich reißt sie den Stundenplan vom Tisch. Es gibt ein sehr lautes Geräusch. „Ffffttt“. Ich erschrecke heftig.
Jetzt zeichne ich den Stundenplan ab. Ich kann meine Haare knistern hören, so wunderbar still ist es auf einmal. Die Augenglasträgerin riecht angenehm hellgelb und ihre Augengläser sind sehr dick. Das ist so gut. Ich spreche einige Sätze mit ihr. Um mich zu beruhigen, lasse ich wieder mein Haar knistern.
Die Stimme der grünpullovrigen Frau Seefeert mit vier ‚e‘ ist hoch, etwas schnarrend und so nachmachgut, dass ich es probiere.
Plötzlich kommt ein Krrr aus der Wand. Ich erschrecke wieder sehr. Das Krrr heißt, dass der Schultag zu Ende ist und alle gehen dürfen.
Da ich mir vorgenommen habe, den Raum als Erster zu verlassen, weil ich das ‚Klock‘ der Türklinke unbedingt noch einmal hören will, verlasse ich ihn auch als Erster.
Auch wenn alles sehr schwierig ist und ich große Angst habe in der neuen Schule, will ich morgen wieder hingehen.
Ich will es schaffen. Ich kann es schaffen.